Am 23.05.2021 unterzeichnete Papst Franziskus die Apostolische Konstitution Pascite gregem Dei, mit welcher der revidierte Text des Liber VI des CIC promulgiert wird. Die Konstitution wurde am 01.06.2021 im L’Osservatore Romano promulgiert und tritt am 08.12.2021 in Kraft. Die Veröffentlichung in den Acta Apostolicae Sedis ist vorgesehen.
Alle angeführten Canones beziehen sich, sofern nichts anderes erwähnt wird, auf die revidierte Fassung des Liber VI des CIC.
Gründe für die Revision
Papst Franziskus hebt in der Apostolischen Konstitution hervor, dass Normen immer im Austausch mit der Gesellschaft und den Erfordernissen des Volkes Gottes stehen. Da diese Erfordernisse sich mit der Zeit ändern, müssen auch die Normen immer wieder den neuen Bedingungen angepasst werden.
Weiter erklärt der Papst, dass die Strafdisziplin in der Kirche immer mit der Liebe verbunden sein muss, dass dieser Zusammenhang aber in der Vergangenheit für viel Unverständnis gesorgt hat. Dadurch entstanden Gewohnheiten, welche der geltenden Rechtsordnung entgegenstehen und denen nicht allein mit Ermahnungen und Ratschlägen begegnet werden kann (vgl. can. 1341). Denn wenn sich bestimmte Lebensweisen festigen, wird eine Korrektur immer schwieriger, und Ärgernis und Verwirrung unter den Gläubigen sind die Folge. Daher ist die Verhängung von Strafen notwendig, wenn es das Wohl der Gläubigen erforderlich macht (vgl. can. 1311 § 2). Auf die Nachlässigkeit bei der Anwendung des Strafrechts hat Franziskus immer wieder hingewiesen, so z.B. in den Motu proprien Come una Madre amorevole (04.06.2016) und Vos estis lux mundi (07.05.2019).
Reformschritte
Das bisher geltende Strafrecht der lateinischen Kirche wurde, wie der gesamte CIC, 1983 von Papst Johannes Paul II. promulgiert. 2007 gab Benedikt XVI. dem Päpstlichen Rat für die Gesetzestexte den Auftrag das Strafrecht zu überarbeiten. Der Rat erstellte einen ersten Entwurf, welcher an alle Bischofskonferenzen, Dikasterien der römischen Kurie, Generaloberen der Ordensinstitute, kirchenrechtliche Fakultäten, sowie verschiedene Strafrechtsexperten gesandt wurde, um Verbesserungsvorschläge und Anmerkungen zu sammeln. Daraufhin wurde der Entwurf erneut überarbeitet und den Konsultoren vorgelegt. Im Februar 2020 wurde schließlich der endgültige Entwurf von der Plenarversammlung des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte geprüft und anschließend dem Papst vorgelegt.
Aufgaben des Strafrechts
Papst Franziskus verweist in der Konstitution gleich zweimal darauf, dass das Ziel der Kirche immer das Heil der Seelen sein muss und das Strafrecht ein Instrument dafür bietet. Er nennt dafür drei grundlegende Ziele des Strafrechts, nämlich die Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die Besserung des Straftäters und die Beseitigung von Ärgernissen (vgl. can. 1343). Die kirchliche Strafe hat die Funktionen der Wiedergutmachung und der heilsamen Medizin und ist auf das Wohl der Gläubigen gerichtet.
Neuerungen
Die Revision des Strafrechts bringt zahlreichen Neuerungen, welche circa Zweidrittel des Liber VI umfassen.
Neue Straftatbestände
Neben der neuen Nummerierung und Sortierung der Canones werden neue Straftatbestände eingeführt, so z.B. Veruntreuung und Korruption in Bezug auf das Kirchenvermögen (vgl. can. 1376 & 1377).
Schadensersatz
Der Schadensersatz wird nun deutlich öfter erwähnt und in die Strafnormen eingebunden, so z.B. in den cann. 1344, 2°; 1347 § 2; 1361 § 4; 1376-1378; 1393 § 2.
Einschränkung des Ermessensspielraums
Auffällig ist, dass Canones, in welchen nach dem bisher geltenden Strafrecht die Verhängung von Strafen dem Ermessen des Richters anheimgestellt war, nun deutlich schärfer formuliert werden. Aus der Formulierung „kann mit einer Strafe belegt werden“ (cann. 1390 § 2, 1391, 1393, 1394 § 1 der bisherigen Fassung) ist oftmals ein „soll mit einer gerechten Strafe belegt werden“ (can. 1390 § 2, 1393 § 1, 1371 §§ 3-6, 1394), „muss bestraft werden“ (can. 1393 § 2), „wird bestraft“ (can. 1371 §§ 1&2), oder ein „ist zu belegen“ geworden (can. 1391). Dadurch wird die kirchliche Einheit bei der Verhängung von Strafen gefördert.
Suspension nicht nur für Kleriker
Die Suspension, welche nach dem bisherigen Canon 1333 § 1 nur Kleriker treffen konnte, kann nach der neuen Fassung desselben Canon nun über alle Gläubigen verhängt werden. Im Zuge der Suspension kann nach can. 1333 § 4 der Empfang von Erträgen, Gehalt, Pensionen oder anderen derartigen Einkünften verboten werden.
Sühnestrafen
Die Sühnestrafen in can. 1336 wurden deutlich erweitert. Neu ist dabei, dass nun auch Geldstrafen verhängt werden können (vgl. can. 1336 § 2, 2°) und die kirchliche Vergütung komplett oder in Teilen gestrichen werden kann (vgl. can. 1336 § 4, 5°), allerdings ist dafür zuerst von der jeweiligen Bischofskonferenz eine Ordnung (Partikularnorm) zu erlassen.
Außerkodikarische Strafgesetzgebung
Die außerkodikarische Strafgesetzgebung, welche sich z.B. in den Normae de gravioribus delictis der Glaubenskongregation findet, hat einen deutlichen Einfluss auf einige der revidierten Normen genommen (vgl. Art. 6 der Normae & can. 1398 § 1). So wird im zweiten Teil des Liber VI der Titel III von „Amtsanmaßung und Amtspflichtverletzung“ in „Straftaten gegen die Sakramente“ umbenannt (cann. 1379-1389). In diesem Titel werden die die Sakramente betreffenden Normen aus den Normae de gravioribus delictis in den CIC integriert, allerdings sind die Formulierungen der Normen nicht deckungsgleich.
Gemäß can. 1371 § 6 wird bestraft, wer die Weitergabe einer Strafanzeige, zu der er vom kirchlichen Recht verpflichtet ist, versäumt. Hier wäre die Integration der Normen von VELM, oder wenigstens ein Hinweis darauf sinnvoll gewesen, da in VELM ausführlich geregelt ist, wann und unter welchen Umständen eine Meldung erfolgen muss. In can. 1362 § 1, 1° wird hingegen explizit auf die eigenen Normen der Glaubenskongregation hingewiesen. Eine Vereinfachung des Strafrechts ist jedoch nicht gelungen, es bleibt weiterhin auf mehrere Rechtsquellen aufgeteilt. Dies ist gerade im Hinblick auf das Kölner Missbrauchsgutachten der Kanzlei Gercke | Wollschläger von aktueller Bedeutung, wurde darin doch der Diözesankurie Rechtsunkenntnis attestiert, welche auch daraus resultierte, dass z.B. die Normae de gravioribus delictis erst neun Jahre nach ihrem Inkrafttreten publiziert wurden.
Straftaten gegen das sechste Gebot sowie gegen die Würde der Person
Die cann. 1395 & 1398 widmen sich speziell der sogenannten Sünde gegen das sechste Gebot, unter welche auch der sexuelle Missbrauch fällt. Waren nach dem bisherigen Strafrecht bei Sünden gegen das sechste Gebot nur Kleriker mit Strafen bedroht, gilt dies nun nach can. 1398 § 2 für alle Gläubigen, welche in der Kirche eine Würde bekleiden oder ein Amt oder eine Funktion ausüben.
Kritik geäußert wurde an unspezifischen Formulierungen, so z.B. der „Sünde gegen das sechste Gebot“. Dieser Begriff sei zu ungenau und erfordere zu viel Auslegung. Markus Graulich, Untersekretär des Päpstlichen Rates für die Gesetzestexte, erklärte in einem Interview mit Vatican-News, warum es bei dieser Formulierung geblieben ist. So wurde in Vos estis lux mundi der Begriff „sexuelle Handlung“ verwendet (VELM, Art. 1, § 1a). Bei sexuellem Missbrauch muss es jedoch nicht zwangsläufig zu sexuellen Handlungen kommen, wodurch die Anwendung des entsprechenden Paragrafen nicht möglich ist. Das sechste Gebot hingegen sei von der Moraltheologie und im Katechismus so gut definiert worden, dass damit strafrechtlich gearbeitet werden könne, ohne den Straftatbestand unnötig einzuschränken.
Ein anderes Beispiel bietet die Formulierung „Person, deren Vernunftgebrauch habituell eingeschränkt ist oder der das Recht einen gleichen Schutz zuerkennt“ in can. 1398 § 1, 1°. Hierzu findet sich in Art. 1, § 2b VELM eine deutlich präzisere Formulierung. Gerade die enge Auslegung des Strafrechts (vgl. can. 18) erfordert präzise Formulierungen der Straftatbestände. Das Anliegen, möglichst viele verschiedene Formen von Straftaten mit einer Formulierung abzudecken, ist nachvollziehbar, schafft aber Unsicherheit bei der Interpretation und Anwendung der Norm.
Des Weiteren wurde der Titel VI im zweiten Teil des Liber VI, in welchem sich auch der neue can. 1398 befindet, um den Begriff der „Würde des Menschen“ erweitert. Somit ist nun auch die Menschenwürde ein strafrechtlich zu schützendes Rechtsgut. Can. 1398 normiert in der bisherigen Fassung die Strafe für eine Abtreibung, in der revidierten Fassung wird die Abtreibung nun in can. 1397 § 2 erfasst; can. 1398 widmet sich ganz den Sexualstraftaten zu Lasten besonders geschützter Personen. Dadurch werden solche Straftaten nicht mehr nur als Verstoß gegen das sechste Gebot betrachtet (vgl. can. 1395) sondern auch als gegen die Würde der verletzten Person gerichtete Straftat. Sie stehen nun im gleichen Titel, in welchem auch Mord, Vergewaltigung und Abtreibung behandelt werden.
Stärkung der Stellung verletzter Personen
Die Reform des Strafrechts ist von Opfern von sexualisierter Gewalt weithin begrüßt worden. Allerdings wird dabei kritisch angemerkt, dass die Beteiligung von Betroffenen in den Verfahren, in Form einer Nebenklage und dem damit verbundenen Recht auf Akteneinsicht, weiterhin nicht explizit erwähnt wird. Hier bietet die systematische Stellung von Sexual-Straftaten im Titel „Straftaten gegen Leben, Würde und Freiheit des Menschen“ neue Möglichkeiten. Die verletzte Person ist nicht mehr nur betroffen durch eine gegen das sechste Gebot gerichteten Handlung, sondern rückt als unmittelbares Objekt der Straftat selbst in den Blick. Materiell strafrechtlich ist nunmehr nicht nur das sechste Gebot verletzt, sondern auch die Person, zu deren Last die Handlung verübt wurde, selbst. Sie ist somit in ihren eigenen Rechten verletzt. In diesem Zusammenhang ist auch auf das Recht jedes Gläubigen gemäß can. 221 § 1 hinzuweisen, eigene Rechte vor der zuständigen kirchlichen Stelle zu verteidigen. Diese veränderte Sichtweise hat unmittelbare strafprozessuale Konsequenzen. Gemäß can. 1596 § 1 CIC kann eine Person, die in eigenen Rechten verletzt ist, ihr Recht auch im Prozess verteidigen, also als Partei auftreten. Mindestens wäre eine verletzte Person jedoch als Nebenbeteiligte zuzulassen und hätte somit etwa das Recht, selbst Beweise vorzulegen. De lege ferenda ist in diesem Zusammenhang eine Schärfung der Stellung des in einen Rechtsstreit eintretenden Dritten zu fordern. Vorerst wird es Sache der Gerichte sein, wie sie etwa mit Frage- und Anwesenheitsrechten bei Vernehmungen sowie mit Akteneinsichtsrechten verletzter Personen umgehen.
Verjährungsfristen
Der Titel VI im ersten Teil des Liber VI um den Begriff der „Verjährung der Strafklage“ erweitert. Die Verjährungsfristen werden im revidierten Strafrecht deutlich ausführlicher geregelt als dies in der bisherigen Fassung der Fall war. Die bisherige fünfjährige Verjährungsfrist des can. 1362 wird auf sieben, bzw. zwanzig Jahre erweitert und gilt nun zusätzlich zu den bisherigen cann. 1394, 1395, 1397, 1398 auch für die Straftaten der cann. 1376-1378 und 1393 § 1. Des Weiteren wurde in can. 1362 ein dritter Paragraf hinzugefügt, welcher das dreijährige Aussetzen der Verjährung regelt (Verjährungsunterbrechung).
Schutz des Beschuldigten
Nicht neu in der Sache, aber nun erstmals im Strafrecht ausdrücklich formuliert ist die Unschuldsvermutung, nach der ein Beschuldigter so lange als unschuldig gilt, bis das Gegenteil bewiesen wurde (vgl. can. 1321 § 1). Ebenfalls nicht neu in der Sache ist die Beachtung des Verteidigungsrechtes bei außergerichtlichen Strafverfahren, welches in der revidierten Fassung des can. 1342 § 1 nun explizit erwähnt wird. Neu sind im selben Canon die Verweise auf die cann. 1608 & 1720, welche sich mit dem Verteidigungsrecht und der moralischen Gewissheit befassen.
Abrogation des bisherigen Strafrechts
Mit Inkrafttreten des neuen Strafrechts am 08.12.2021 werden die bisherigen Normen des Liber VI des CIC nach can. 20 CIC abrogiert, was bedeutet, dass sie gänzlich aufgehoben werden. Davon zu unterscheiden sind die Derogation und die Obrogation, welche ein Gesetz nur in Teilen aufheben.
Weitere Planungen
Markus Graulich erklärte im Interview, dass zum revidierten Strafrecht ein Vademecum in Arbeit ist, welches in einem bis eineinhalb Jahren erscheinen und die Anwendung des neuen Strafrechts erleichtern soll.
Auch die Deutsche Bischofskonferenz hat sich bei ihrer Frühjahrsvollversammlung 2020 mit drei Textentwürfen zur Neufassung der kirchlichen Gerichtsbarkeit in Deutschland beschäftigt, diese umfassten die Themen einer Strafgerichtsordnung, einer Verwaltungsgerichtsordnung, sowie einer Disziplinarordnung für Kleriker.
Link zur Apostolischen Konstitution
Link zum Text des revidierten Strafrechts
Beitrag: Diego Lopez