Die katholische Kirche verfügt über ein eigenes Strafrecht. Dieses ersetzt nicht das weltliche Strafrecht, das auch für die Kirche gilt, sondern tritt als innerkirchliches Spezialrecht dazu.
In diesem Zusammenhang gibt es auch ein Vorverfahren, das mit dem staatlichen Ermittlungsverfahren vergleichbar ist, die kanonische Voruntersuchung.
Wann wird eine kanonische Voruntersuchung eingeleitet?
Der Bischof oder der Generalvikar leiten eine kanonische Voruntersuchung ein, wenn der Verdacht besteht, dass ein Mitglied der Kirche wahrscheinlich eine Straftat nach kirchlichem Recht begangen hat.
Einen solchen Verdacht nennt man im kirchlichen Recht „noticia de delicto“; das bezeichnet das, was man im weltlichen Recht „Anfangsverdacht für eine Straftat“ nennt.
Damit man von einer solchen notitia de delicto sprechen kann, müssen Tatsachen vorliegen, aus denen sich der Verdacht, jemand habe wahrscheinlich eine Straftat begangen, ergibt.
Bloße Gerüchte oder wage Äußerungen reichen dafür nicht. Gegebenenfalls muss eine Vorprüfung vorgenommen werden, um zu überprüfen, ob ein Gerücht oder ein wage Äußerung tatsächlich zu einer noticia de delicto führt. Diese Vorprüfung kann man mit dem staatlichen Vor-Ermittlungsverfahren vergleichen.
Liegt tatsächlich ein solcher Verdacht vor, ist der Bischof bzw. der Generalvikar verpflichtet, eine kanonische Voruntersuchung einzuleiten. Tut er es nicht, macht er sich möglicherweise nach kirchlichem Recht strafbar.
Liegt keine notitia de delicto vor, darf er eine solche Untersuchung nicht einleiten. Tut er es trotzdem, macht er sich möglicherweise nach kirchlichem Recht strafbar.
Dies macht die besondere Verantwortung des Bischofs bzw. des Generalvikars deutlich, da sie in beiden Fällen ins Visier des kirchlichen Strafrechts kommen können.
Wozu dient eine kanonische Voruntersuchung?
Die kanonische Voruntersuchung dient dazu, zu überprüfen, ob sich die notitia de delicto, also der Verdacht, durch weitere Ermittlungen erhärtet oder nicht. Sie soll den Bischof bzw. den Generalvikar in die Lage versetzen , ob gegen einen Beschuldigten Anklage zu erheben ist oder nicht. Liegen genügend Anhaltspunkte vor, die eine Anklageerhebung rechtfertigen, entscheidet der Bischof oder der Generalvikar darüber, ob ein kirchlicher Strafprozess oder ein Verwaltungsstrafverfahren (auch administratives Strafverfahren genannt) durchgeführt wird.
Um diese Entscheidungen zu ermöglichen, sind im Rahmen der kanonischen Voruntersuchung Erkundigungen zum Sachverhalt, den näheren Umständen der mutmaßlichen Tat und zur Frage, ob Vorsatz oder Fahrlässigkeit gegeben ist, zu erheben.
Welche Besonderheiten gibt es beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch Minderjähriger?
Richtet sich der Verdacht (notitia de delicto), wahrscheinlich eine Straftat des sexuellen Missbrauchs zu Lasten Minderjähriger begangen zu haben, gegen einen Priester oder Diakon, ist für die Prüfung, ob tatsächlich eine noticia de delicto vorliegt, sowie gegebenenfalls für die Einleitung und Durchführung der kanonischen Voruntersuchung weiterhin der Bischof bzw. der Generalvikar zuständig; die Entscheidung ob im Anschluss an die kanonische Voruntersuchung ein kirchlicher Strafprozess oder ein Verwaltungsstrafverfahren durchzuführen ist, trifft in diesem Fall das Dikasterium für die Glaubenslehre, also eine päpstliche Behörde.